Störbilder und Blickstörungen
Beate Eickhoff
Maike Freess ist eine Künstlerin, für die die Kunst nicht Selbstzweck ist, kein Formen- oder Bilderspiel, sondern sie nutzt sie, um alles, was uns vertraut und sicher erscheint, grundlegend infrage zu stellen: Sie führt den Irr-Sinn vor, den man für die Logik der Realität hält, die Unsicherheiten, aus denen sich das individuelle Selbstbewusstsein zusammensetzt. Ihr Thema ist, wie sie selbst formuliert, „der Mensch in seiner unvollkommenen, begrenzten und instabilen Natur, sein Verhältnis zu sich, zu seiner Umgebung, zu anderen Menschen und zur Gesellschaft; die Ambiguität
der menschlichen Psyche“.
Bereits bevor Maike Freess ihr Kunststudium an der Burg Giebichenstein in Halle aufnahm, hatte sie als Jugendliche schon in der Zeichnung ihr Medium gefunden; und sie ist ihr persönlichstes, authentischstes und gleichzeitig am meisten verstörendes Ausdrucks- und Darstellungsmittel bis heute geblieben. Beeindruckt von der mittelalterlichen Malerei eines Hieronymus Bosch oder Hans Memlings „Das Jüngste Gericht“, von Goyas
Serie „Los Caprichos“ oder den Gemälden Caravaggios stehen ihre
Anfänge zudem, was das handwerkliche Können und die Wirkkraft des gezeichneten
Porträts angeht, ganz in der Tradition deutscher Zeichner wie
Grünewald, Dürer und Cranach. An der Leipziger Hochschule für Grafik
und Buchkunst waren es Werner Tübke oder Arno Rink, die diesen Stil vertraten.
Die Reduktion und Konzentration, die Freess in der deutschen Zeichenkunst
faszinierte, kam sicherlich ihrem Drang, mit ihren künstlerischen
Arbeiten auf eine Aussage zu zielen, Spitzen zu setzen, klar und direkt zu
sein, entgegen. Doch um die von einer modernen Künstlerin wie ihr tief
empfundenen, existentiellen Fragen zu stellen, hat sie sich konsequenterweise
keine Selbstbeschränkung auferlegt und sich aller zeitgenössischen
Techniken bedient. Skulptur, Fotografie und Video hat sie seither in zusammenhängenden
Phasen entwickelt und doch parallel kontinuierlich
gezeichnet. Nur auf Leinwand gemalt hat sie nie.
Durchgängig und in allen Medien ist das zentrale Motiv von Maike Freess
die menschliche Figur – zumeist mit der Konzentration auf das klassische,
anonyme Kopf- oder das Ganzfigurenporträt. Während die Zeichnungen
– sieht man von ihren jüngsten Arbeiten ab – im undefinierten, irrealen
Luftraum, den das schwarzgrundige oder das weiße Papier bietet, verbleiben,
nutzt sie die Fotografie, um ihre Fragestellung möglichst nah an uns
heranzurücken; um Orte zu schaffen, die wie ein Stück Wirklichkeit anmuten.
Man identifiziert zwar Bekanntes: eine Waldlichtung, ein Zimmer, ein
Bad. Trotzdem strahlen die Orte eine bedrückende Fremde aus. Sie sind zu
kühl, zu ästhetisch, zu offensichtlich arrangiert und artifiziell, um tatsächlich
reale Alltagssituationen zu suggerieren. Unwirklich ist das Lichtspiel,
unwirklich die extreme Bildschärfe. An diesen spezifischen Orten sind ein,
zwei oder drei Personen in Aktion begriffen. Die Bildränder machen den
jeweiligen Spielort zum klar definierten, abgeschlossenen Raum, in dem
sich die Spannung der Handlung konzentriert. Die Akteure sind von ausgefeilter
Eleganz, verharren aber statisch in der Bewegung. Dem Betrachter
wird alle Ruhe gelassen, die zur reflektierenden Betrachtung notwendig
ist. Aus wenigen, zumeist klaren und attraktiven Bunttönen komponiert,
wirken die Fotografien monumental und ruhig wie Malerei. So eindeutig
ist alles inszeniert, dass man sofort begreift: Hier wird nichts erzählt, sondern
das Foto ist ein Gleichnis, ein Traumbild, ein „psychologischer Raum“.
Die Kleidung der Akteure ist nicht modisch, vielleicht eher altmodisch, jedenfalls
auf befremdliche Art nicht einzuordnen, ein Zeichen dafür, dass
die Situationen anonymisiert und unserer Jetzt-Zeit enthoben sind. Die
beiden Fotoserien „Should I Stay?“ (2000) zeigen die Künstlerin mit zwei
Männern eng beieinander sitzend oder vereint auf einer Waldlichtung, alle
mit einer extrem starken, sehr körperlichen Präsenz, jeder anscheinend
sich selbst mit der Frage quälend: Soll ich bleiben? Es ist eine Situation,
die jeder kennt: Man ist hineingesetzt, existentialistisch gesprochen „geworfen“,
in die Wirklichkeit, für die es keine Regeln, keine Handlungsanweisungen
gibt. Der Betrachter bemerkt Regungen, Nuancen, und empfindet
die ungute Anspannung, die explosiv aufgeladene Atmosphäre förmlich
am eigenen Körper. So attraktiv die Waldszene auch ist, die Schönheit ist
trügerisch, die Isolation der einzelnen Figuren, ihre unlogischen Handlungen
erscheinen rätselhaft, eine latente psychische Gewalt gegen sich
selbst oder gegen die anderen ist spürbar. Die expressiv inszenierten Gesten
scheinen eindeutig, doch ihr Ziel bleibt verborgen. Es gibt keine (Er-)
Lösung und keine Erfüllung. Die einzelnen Situationen reihen sich zum
Theaterspiel, ohne Anfang, ohne Ende, womit die Frage: „Should I stay?“
letztendlich an den Betrachter weitergegeben ist.
Die Künstlerin selbst ist in allen Fotoarbeiten die Haupt- und Testfigur. Fast
lebensgroß, oft auch allein und mit minimalsten Requisiten (ein Stuhl, ein
Tisch), inszeniert sie sich an inszenierten Orten. Wenn weitere Personen erscheinen,
dann bleiben es Mitspieler, Randfiguren, die ihrer Rolle zugeordnet
sind. Sie exerziert eine demonstrative und extreme Selbstprüfung quasi
in Stellvertretung für den Betrachter. Denn niemand beobachtet einen so
genau wie man selbst. Sie – oder man – ist sich selbst das größte Rätsel,
sich selbst der eigene Clown. Man versteckt sich hinter seinem Äußeren
und alle Selbstdarstellung führt nie zurück auf ein wahres Bild. Dass immer
die Künstlerin als Model auftritt, ist sicher nicht nur der Tatsache geschuldet,
dass sie ihre Ideen mit sich als Protagonistin am präzisesten umsetzen
kann. Vielmehr handelt es sich um ein kritisches Selbstporträt, wie es von
Otto Dix und Max Beckmann bis zu Cindy Sherman – oder auch Francesca
Woodman ist genannt worden – eine lange Tradition in der Kunst hat.
Ihre Neigung, sich selbst in absurden Situationen vorzustellen, grenzt an
Besessenheit. Die Fotoarbeit „Die Strafe“ (2004), die sie geteert und gefe-
dert zeigt, gehört zu den wohl extremsten Vorstellungen von Maike Freess.
Formal und im Werkzusammenhang gesehen sind die Verbindungen dieser
beeindruckenden Fotoarbeit zu ihren Zeichnung und Skulpturen ganz
offensichtlich. Sie ist allein, der Körper vollständig schwarz und mit weißen
Federn bedeckt. Dermaßen bestraft und dekoriert zugleich, sitzt sie
uns in fester und vornehmer Haltung wie eine Königin gegenüber, weder
ausgeliefert noch erleidend, schaut sie aus der Tiefe uns an. Als Künstlerin
darf sie die weibliche Identität dermaßen gefesselt und gequält zeigen.
Und sie treibt die Selbstbespiegelung sogar noch weiter:
Mit einem Wachsabguss, den sie von sich selbst gemacht hat, schafft sie
sich ihr eigenes Double, einen Klon, den sie, festgehalten in einer Fotoserie
von 1999, durch abstruse Aktionen versucht, zum Leben zu erwecken.
Erschreckend für den Betrachter ist das wissende Lächeln dieser willenlosen
Figur ohne Identität, egal was ihr widerfährt. Die weißlich monochrome
Wachspuppe ist das Alter Ego der Künstlerin, das zweite Ich, ihr
eigener Schatten, den sie betrachtet. Die Skulptur aus Wachs ist aber nicht
allein die Figur, die das Zwiegespräch der Künstlerin mit sich selbst zum
Bild werden lässt, sondern sie findet sich auch in einigen Installationen der
Künstlerin wieder.
Maike Freess legt den Finger nicht nur in die Wunde, die die menschliche
Psyche darstellt. Auch die extreme Körperlichkeit, die sich in ihren
Arbeiten aufdrängt, damit die andere Seite des Menschen, wirkt wie ein
Tabubruch. Das Vexierspiel zwischen tot und lebendig geht dem Betrachter
unter die Haut. In Wachs formt sie den ganzen Menschen, aber auch
einzelne Körperorgane nach: Ohren, Nase, Gesicht. Die samtene, hautimitierende
Oberfläche, das künstliche Haar wirken ästhetisch kunstvoll und
abstoßend unästhetisch, ja gruselig, zugleich. Mit Klängen, undifferenzierten
Geräuschen, einem nicht identifizierbaren Wortbrei wird die Stummheit
der Nachbildungen gefüllt. Auf einem Stuhl sitzende Wachsfiguren
mit langem, schwarzen Haar, die, wenn nicht das Abbild der Künstlerin,
dann zumindest ihr ähnlich sind, zeigen wieder den Kampf mit sich selb
st. Während in „It Turns My Head“ (2001) oder „Caprice“ (2002) sie stumm
und reglos da sitzen, zeigt eine jeweils zu ihren Fü.en versteckte, kleinformatige
Videoeinblendung eine wild gestikulierende Person. In einer
weiteren Arbeit „Ich bin an einem Ort, an dem nichts geschieht – ein sehr
beliebter Ort“ (2004) kombiniert sie die Figur mit einer in den Raum wachsenden,
ausgreifenden Collage aus höchst kultivierten Zeichnungen und
mit versteckt eingefügten, kleinen Videos zu einer sexuell aufgeladenen
Assemblage. Einzigartig ist die Zusammenführung einer so traditionellen
Kunstgattung wie der Zeichnung, die von Maike Freess mit der Virtuosität
alter Meister beherrscht wird, mit modernen Medien. Im Vergleich zu den
fast minimalistischen Fotografien sind diese skulpturalen Installationen
und ‚combine drawings‘ eine höchst komplexe Herausforderung an das
Sehen, wenn nicht gar eine provozierte Überforderung.
Ist das, was hier vorgeführt wird, fröhlich oder verzweifelt, ironisch oder bitterer
Ernst? Auch bei zwei weiteren, unter formalen Aspekten eigentlich in
der Werkentwicklung singulär stehenden Arbeiten bleibt vor allem der Zwei-
fel: In Anlehnung an das Schlagwort „form follows function“ könnte man
hier sagen: Das Thema erfordert das künstlerische Medium, was wiederum
zeigt, wie intensiv Maike Freess existentiell drängende Fragen aufnimmt.
(„Der archivierte Tod“, 2011) ist ein Video, in dem eine kleine Marionette
den „Gevatter Tod“ spielt, der aus einem Archivkarton befreit, an Fäden
gezogen über das Straßenpflaster springt und dabei immer wieder in eine
Pfütze fällt. Oder – wieder ist der Titel Teil des Werkes – die Installation
(„Das Blaue vom Himmel“, 2011): Ein lebensecht nachgeformtes, blondes
Schulmädchen in kurzem Faltenrock und artiger Strumpfhose dreht sich –
wie auf einer Spieluhr – endlos und ausgeliefert, und ist darin dem an Fäden
hängenden und ferngesteuerten Marionetten-Tod ganz ähnlich. Auch
hier mischt sich das Harmlose mit der absoluten existentiellen Gefahr,
dem vollkommenen Untergang. Da gibt es kein Entrinnen. Wie ein Fanal in
dieser schönen und harmlosen, unaufgeregten Endlosigkeit schlägt, wenn
man den Gürtel des Mädchens identifiziert hat, die Erkenntnis ein: Das
sind Granaten! Die Bombe steht, so Maike Freess, die im Jahr von 9/11 diese
so poetische wie aktuelle Installation geschaffen hat, für die Gefahr, die
in unserer Zeit allgegenwärtig ist; sie steht für das Zerbrechen aller Werte.
Die Foto-Serien scheinbar zusammenhangloser Einzelbilder, die als Serie
allein durch einen gemeinsamen Titel – so etwa „Insomnia“ („Schlaflosigkeit“,
2004) – verbunden sind, wie auch die Einzelbilder, die aus einem
scheinbaren Handlungsablauf stammen – so etwa „Should I Stay“ (2000)
– begreift Maike Freess durchaus als „Filmstills“ oder „Tableaux vivants“,
auch wenn kein Film als Grundlage dahinter steht. Gezielt suggeriert sie
zwar einen Ablauf, der aber nicht überprüfbar ist, weil sie nichts preisgibt,
von dem, was in der Zeit zwischen den Momentaufnahmen passiert; bewusst
also Offenstellen lässt, die die Phantasie des Betrachters anregen.
In ihren Filmen dagegen gibt es ein räumliches und zeitliches Kontinuum.
Aber auch das ist irreführend, denn die Handlungen sind sinnlos, ohne
Anfang, ohne Ende, ein absurdes Theater. Was die Menschen tun, ist jeweils
unspektakulär, ist surreal, immer wieder dasselbe. Man assoziiert
literarische Parallelen, zu Beckett etwa oder zu Kafka.
Auch in den Videos geht es um Interaktion, um Kommunikation. Optisch
haben die gefilmten Spielabläufe von „When it’s most beautiful“ (1999)
(ein im Chaos endendes Schachspiel mit aufgesetzten Masken) und „All
wishes start from here“ (2001) (ein Mann und eine Frau an einem Tisch, die
unfähig sind zu kommunizieren) sehr viel mit den Fotoarbeiten gemeinsam.
Auch hier geht es um Menschen, die sich aneinander abarbeiten und
nicht zueinander finden. Es geht um die Isolation und die Ohnmacht in einer
kontaktlosen Welt. Jeder ist, wie Maike Freess sagt, „im Beckett‘schen
Sinne in sich selbst gefangen“. Das Komische und das Tragische verbindet
sich genauso wie das Schöne und das Hässliche, wie die Ordnung mit dem
Chaos in diesen absurden Schauspielen.
In weiteren Videos, etwa „A Noise hums in my head“ (2001), ist die Künstlerin
wiederum klar die Hauptakteurin. Maike Freees lässt in dieser Videoarbeit
vier kurze Filmsequenzen hintereinander ablaufen. Jede einzelne
könnte man als gefilmte Performance sehen, mit dem Unterschied, dass
der Ort, an dem jeweils gespielt wird, klar definiert, gestaltet und wie in
den Fotoarbeiten bildhaft komponiert ist. Zielgerichtet zeigt Maike Freess,
was wir sehen sollen, jede vermeintliche visuelle Ablenkung führt zurück
auf die beabsichtigte Aussage. Minimalistisch und elementar verlaufen
die Aktionen in endloser Wiederholung: Eine Frau steht am Fenster und
schaut, eine Frau tanzt einsam in einem Zimmer, eine Frau läuft zögerlich
eine Treppe hinauf. Im vierten Video sieht man zwei Männer im Anzug,
von denen einer sich dem anderen zu Fü.en wirft. So einfach, wie die
einzelnen Filme angelegt sind, so komplex ist die Zusammenschau. Denn
wie die vier Handlungen untereinander zusammenhängen, bleibt offen.
Angespannt verfolgen wir, was wohl passiert, bis wir uns schließlich vielleicht
einen Zusammenhang selbst konstruieren, eine eigene Geschichte
erfinden.
Ähnlich wie Marina Abramovi´c in ihrer Performance mit dem so präzisen
wie einfachen Titel „The artist is present“ demonstriert Maike Freess
hier im weitesten Sinne psychologische Selbstversuche. Das Bewusstsein
für das Dilemma, gefangen zu sein in der eigenen psychischen Struktur,
wird evoziert, wobei keine wirkliche Interaktion zwischen Filmfigur und
Betrachter stattfindet. Letzterer kann sich immer noch auf seine passive
Position als Beobachter zurückziehen. Doch im Video „Tanzen Sie?“ (1999)
beispielsweise tritt Maike Freess mit einer ganz direkten Ansprache über
diese Schwelle hinaus. Die Handlung ist denkbar einfach: Musik erklingt,
und eine attraktive junge Frau im Abendkleid fordert zum Tanz auf. Hier
gibt es keinen durch irgendwelche erzählerischen Details charakterisierten,
spezifischen Ort. Die Aufforderung trifft den Betrachter wie aus dem
Nichts. Projiziert auf eine durchsichtige Stellfläche aus Acrylglas, die mitten
im Raum aufgestellt ist, hat die Filmfigur hier – wie auch in weiteren
Videos – die Präsenz einer realen Person.
Die Isolation der Figur hat wiederum sehr viel zu tun mit den gezeichneten
Porträts. Beschäftigt man sich mit den Videos der Künstlerin, dann verändert
sich der Blick auf ihre Zeichnungen, wie auch umgekehrt sich aus der
Perspektive der Zeichnung der Blick auf die Videos verändert. Die Ausstellung
in der Von der Heydt-Kunsthalle, die Maike Freess „Von blinder Gewissheit“
überschreibt, bringt beide Kunstformen in einen engen – nicht
nur räumlich zu sehenden – Kontext.
Maike Freess hat ihr eigentliches künstlerisches Medium nie vernachlässigt,
und es gehört zu den faszinierendsten Aspekten jeder ihrer Ausstellungen,
ihr formal so gegensätzliches Werk im Zusammenhang zu sehen.
Gemalt hat sie nie, weil, wie sie sagt, ihr die Härte und Sprödigkeit des
Papiermaterials wichtig ist und ihr die Geschmeidigkeit der Leinwand
nicht liegt. Sie braucht den Widerstand. Andererseits ist die Freiheit zu surrealistischen
Experimenten in der Zeichnung am größten. Maike Freess
zeichnet ohne Vorstudie direkt auf das Papier. Die Dynamik des Strichs,
das Hell/Dunkelspiel und die Komplexität der Komposition können je nach
Werkgruppe höchst unterschiedlich sein. Man mag sich zwar fragen, was
beeindruckender ist an ihrer Zeichenkunst, ihre Imaginationskraft etwa
oder der virtuose Hyperrealismus. Letztendlich aber hat jede einzelne ihrer
Zeichnungen eine solche Wirkmacht, dass ästhetisches Gefallen zweitrangig
wird.
Viele sehr unterschiedliche Porträts hat Maike Freess gezeichnet, sich mit
der Arbeit „Humming Place“ (2010) beispielsweise eine private Sammlung
anonymer Gesichter träumender, schlafender, sinnierender Gestalten
geschaffen, alle entrückt und abgewandt, versponnen in sich selbst. Sie
bleiben fern und unergründlich in ihren Welten, vereint durch den Klang,
mit dem sie diese Porträts untermalt, der lediglich als unverständliches
Gemurmel zu identifizieren ist. Auch in der Zeichnung gibt es bei Maike
Freess die poetische Seite und es gibt die kritische, karikatureske: Ein Beispiel
ist das Bild „Die Auszeichnung“ (2010), das die Fratzen der modernen
Gesellschaft zeigt, die wie im Kasperletheater aufgereiht und vorgeführt
werden. Jeder einzelne der Porträtierten ist in seiner Art behindert, blind,
und trotzdem selbstbewusst.
Zu einer ihrer größten und auch beeindruckendsten Zeichnungen „Amok“
(2010) sei hingegen der Pariser Kritiker Philippe Dagen zitiert: „Ihre Biografie
sagt aus, dass Maike Freess 1965 in Leipzig geboren wurde. Man
muss also an eine Seelenwanderung glauben, denn die Künstlerin ist vereinnahmt
von der künstlerischen Sichtweise eines Baldung Grien oder zumindest
eines Grünewald, oder, noch näher an uns heran, eines Bellmer.
Auf weißem oder schwarzem Papier zeichnet sie mit derselben Sicherheit
des Striches wie diese und erzeugt mit der gleichen leichten Art und Weise
die Räumlichkeit der Köpfe und Körper durch Linien und Lichtpunkte.
Doch sie ist von heute. Man kann ihre verdrossenen oder abgestumpften
Frauengesichter auf den Straßen sehen. Die Militärparaden, die im Hintergrund
aufsteigen, kennt man seit dem 20. Jahrhundert ebenso. AMOK,
die sehr große dominierende Zeichnung, ist eine der beeindruckendsten
Allegorien der Zeitgeschichte, die man gesehen hat. Auch eine der grausamsten.“
Auch ihre jüngsten Zeichnungen, auf weißem oder auch schwarzem Papier,
sind großformatig und präzise durchgearbeitet, weshalb sie die
Konkurrenz mit den Medien Film und Foto in jeder Hinsicht aufnehmen
können. Die Portr.tzüge sind nun individualisierter. Neu ist die räumliche
Auffassung, da sie die Figuren nun tatsächlich wie auf einer Bühne stehen
lässt. Die Kleidung ist – wieder wie in den Fotoarbeiten – realistisch und
trotzdem fremd. Gekleidet in Shorts, einem Hemd oder einem Anzug mit
Fü.lingen, stehen sie nicht auf der Erde, sondern in einer Traumwelt. Ihr
Blick bleibt im Bildraum, jede Figur ist in ihrem eigenen Gefüge hermetisch
entrückt oder gefangen. Die Reduktion auf Schwarz-weiß mit wenigen
farbigen Akzenten deutet darauf hin, dass es sich um „Hirngespinste“
handelt, um Halluzinationen.
Allerlei absurde Details gibt es da zu entdecken: Der Körper, der einem
selbst fremd ist oder wird, Gliedmaßen die sich entfremden, oder fremde
Organe, die sich anheften, aufpflanzen, verzerrte Gesichter, Menschen mit
Krallen. Einem Jungen laufen marschierende Gestalten über die Rückenhaut,
der Bauch einer Frau öffnet sich und allerlei Unappetitliches kommt
zum Vorschein. Fantastisches ist mit Wahrheit gemischt. Das ist nicht eigentlich
surreale Vorstellung, man vermutet eher einen Röntgenblick, der
diese Bilder hervorholt. Formal gesehen sind diese Traumbilder dann aber
doch sehr kontrolliert angelegt; da gibt es kein endloses Weiterwachsen,
kein labyrinthisches Gewimmel, sondern strukturierte Reihung. Individuelle
Porträts stehen Kolonnen von gleichförmig marschierenden Figuren
gegenüber – das anonyme Kollektiv, das dem Subjekt buchstäblich im Nacken
sitzt.
Es ist, als wenn die Oberflächenbilder, die man üblicherweise sieht, zerrissen,
zerstört werden müssten, um bis zu den wirklichen Dingen vorstoßen,
um der Wahrheit – oder Gewissheit – auf den Grund gehen zu
können. Doch was zum Vorschein kommt, ist oft genug furchterregend,
weshalb auch Maike Freess‘ Zeichnungen zuweilen an die Grenzen des
guten Geschmacks stoßen. In den schwarzgrundigen Blättern ist die Atmosphäre
unheilvoll aufgeladen. Die Motive, gepaart mit dem altmeisterlichen
Können, lassen an mittelalterliche Höllenbilder denken, als sähen wir
hier unser modernes ‚Jüngstes Gericht‘. Der Voyeurismus lässt uns verweilen
– und dann? Tatsächlich beobachtet man sich selbst beim Denken,
versucht vielleicht sogar, der eigenen Logik auf die Spur zu kommen. Doch
geht es möglicherweise gar nicht darum, die Fantasien zu deuten, zu erklären,
sondern einfach um ihr Erleben. Hier ist Freess‘ Zeichenkunst der von
Alfred Kubin durchaus verwandt, wobei bei ihr nicht das passive Erleiden
der Traumbilder, sondern deren aktive Gestaltung im Vordergrund steht.
Ein ganz prägnantes Mittel der Gestaltung ist ihre Erfindung der „cuts“
oder „paper cuts“: geschnittene Papierlinien, die sie in die Bilder einfügt,
um den Blick des Betrachters zu stören. Sie haben die Funktion von Bruchlinien,
die eine allzu realistische Sichtweise, eine allzu sichere Interpretation
verhindern. Der Begriff „Cut“ assoziiert natürlich auch den Filmschnitt,
der Räume und Zeiten durchtrennt oder zusammenfügt. Tatsächlich bewirken
sie eine Raumfacettierung, und führen dazu, dass man einzelne Bildfelder
sukzessiv wahrnehmen muss und die Abfolge zu einer Beschleunigung
des Sehens führt. „Sie stehen für das Unerwartete, das Ungewisse,
das Unbekannte, Ungeplante, die unkalkulierbaren, ebenso unlogischen
Ereignisse, mit denen wir permanent konfrontiert sind. Diese Zwischenräume,
schwarze Lücken oder Löcher kennzeichnen den psychologischen
Raum als ‚gedachten Raum‘“, schreibt Freess dazu.