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Unmögliche Begegnungen


Jeanette Zwingenberger


Gerade in der heutigen Zeit der Selfies, in der es nicht mehr um die Begegnung mit dem Anderen geht, sondern um die Inszenierung einer narzisstischen Selbstverliebtheit, bringen uns die Porträts von Maike Freess die psychologische Bandbreite des menschlichen Antlitzes zu Bewusstsein. Mit unglaublicher Feinheit und Raffinesse bringen ihre Zeichnungen das Ausdrucksvermögen des menschlichen Gesichts zum Leben und zeugen gleichzeitig von der Tragik einer Eingeschlossenheit, der unmöglichen Begegnungen, die unsere aktuelle, autistische Welt kennzeichnet. Auf einer scheinbar realistischen Ebene zeichnet Maike Freess vorwiegend Jugendliche. Im Bildnis in Großaufnahme „Coma“ (2014) steht ein Mädchen aufrecht, gleich einer Traumtänzerin mit geschlossenen Augen, die Hände tastend ausgebreitet. Sie steckt in einer eigenartigen Kabine, ihr Körper ist

in einer Glasscheibe gefangen genommen, nur die äußeren Gliedmaßen bewegen sich außerhalb dieser Starre. Fusioniert hier die leibhaftige Person mit ihrem eigenen Spiegelbild, oder handelt es sich um den Kampf mit dem inneren Schattenbild? Maike Freess geht es nicht um Geschichten, sondern um psychische Zustände. Als genaue Porträtistin gelingt es ihr auf direkte, fast sezierende Art und Weise, mit ihrem Stift Physiognomien einer Gesichtslandschaft wiederzugeben und eine Intimität mit dem Gegenüber herzustellen, die an Haut-Nähe grenzt. Oftmals sind die Gesichter in einer Frontalansicht direkt auf den Betrachter ausgerichtet, jedoch kommt es zu keiner Begegnung. Die meisten ihrer Subjekte haben geschlossene Augen, und selbst wenn sie offen sind wie in der Zeichnung aus dem Nahblick „Stigma“ (2014) mit dem Mädchen, dessen dunkle Augenringe zu einer Maske werden, entsteht kein Blickkontakt. „Ich denke über die Blindheit des Blicks nach und die trügerische Wirkung des äußeren Erscheinungsbildes,“ so

Maike Freess im Gespräch. Ihr Werk oszilliert zwischen der körperlichen Nähe und der Abwesenheit der Person, symbolisiert durch den unnahbaren Blick.Seit 2002 dreht sich Maike Freess‘ Vokabular vorrangig um Heranwachsende. Es geht ihr um die Zwischenzustände der Kindheit und die Konfrontation mit der Realität der Erwachsenen. Sie selbst ist in Leipzig aufgewachsen und absolvierte dort und in Halle ihr Hochschulstudium. Im Alter von 24 Jahren erlebte sie den Zusammenbruch des sozialistischen Regimes. Anfang der 1990er Jahre erhielt sie ein Auslandsstipendium und studierte zwei weitere Jahre an der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris im Multimedia-Atelier von Christian Boltanski. Dessen sensibler und feinsinniger Weg, auf ethische Weise die Shoah zu verarbeiten und sich selbst mit einzubringen, prägte sie nachhaltig. Aus Leipzig kommend lernte sie in Paris den französischen Lebensstil kennen. Dieses Aufeinandertreffen von verschiedenen Wirklichkeiten schärfte ihr Bewusstsein auf verschiedenen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Ebenen. Ihre Kindheit war geprägt von klassischer Musik, Bach und Händel, sie selbst sang im Romanus-Chor. In Paris entwickelte sie durch den Tangotanz ein Gefühl von Konzentration und Rhythmus, der sich auch in ihrer Arbeit wiederfindet: in den von fast mathematischer Genauigkeit geprägten Bewegungen sowie absoluter Körperspannung ihrer Subjekte. Diese erleben jedoch Störungen. Ihre eigenartigen Haltungen veranschaulichen die schwierige Balance zwischen verschiedenen Zuständen: des in sich Ruhens oder des sich Verlierens, von fließender Energie oder einem Erstarren, einem sich Entgleiten und außer sich Seins. Die Künstlerin interessiert es, „psychische Räume mit all ihren Ambiguitäten herauszustellen und zu analysieren; das Absonderliche, das Abwegige im Alltäglichen und die Unzulänglichkeiten, die von der Norm oder kodierten Abbildern abweichen“ sichtbar zu machen. Der Mensch ist der zentrale Angelpunkt, wie er sich inkarniert, sich selbst sowie dem anderen begegnet. Kurz: ihre Porträts erforschen die innere Wahrnehmung, sie gehen unter die Haut. Die von ihr erfundenen Wesen erinnern an Kleists Aufsatz: „Über das Puppentheater“, in dem er schreibt, dass die völlige Abwesenheit von Bewusstsein wie beim Gliedermann das natürliche Verhalten der Anmut erzeuge. Die seltsamen Attitüden ihrer Figuren verraten innere, unbewusste Zustände. Für die Künstlerin sind sie eine Metapher, wie die Fäden unserer Gesellschaft uns manipulieren, aus der Bahn werfen und wir zu Marionetten werden. Immer wieder taucht das Motiv einer Glasscheibe auf. In „Invidia“ (2014) sitzt ein Mädchen auf dem Boden, auf dessen Schoß liegt eine Glasscheibe, während eine Hand zum Greifen nah unter dieser herauszukommen scheint. Hier geht es um das Wechselverhältnis von Gesicht1 und Bild, die lebendige Dreidimensionalität des Körpers und die kalte Flachheit der Glassscheibe, Synonym für das Spiegelbild. Lichtenberg bemerkt in diesem Zusammenhang: „die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht“. Bei Maike Freess stößt der Betrachter jedoch auf eine Glasscheibe, die eine Frustration auslöst, die ihm zu Bewusstsein bringt, dass wir uns in Parallelwelten bewegen.

GESPRENGTER BILDRAUM

Ein Junge steht aufrecht nur mit einer Unterhose bekleidet auf einem Stuhl. Seine Augen sind geschlossen. Um ihn herum sind Wände, die sich auflösen, in Einzelsegmente entfalten, auf denen sich seltsame Gestalten reflektieren, gleich einer Außenwelt, die sein inneres Theater widerspiegelt. Maike Freess kehrt hierbei die innere Fantasiewelt nach außen, sie wird zu einer Extension, während die Person unerreichbar im Zentrum ihres Spektakels steht. Die Kräftelinien zwischen innen und außen bedeuten eine „Spannungsfiguration‘‘ von Körper und seinem räumlichen Umfeld, die Maike Freess als deren Ausdehnung versteht. Im Gegensatz zum Prinzip des Fokussierens der bewusst gerahmten Bildkomposition der Fotografie, bricht Maike Freess die Blickachsen ihrer

Zeichnungen auf und agiert mit Perspektivwechseln. Sie sprengt die Figur sowie deren Bildraum durch schwarze „leere“ Spalten, Splitter, Zwischenräume und Bruchlinien, die das Bildgeschehen gleich einem zerbrochenen Spiegel fragmentieren. „Sie verneinen das, was sie teilweise darzustellen vorgeben, es bleiben Flecken, Lücken oder Löcher ... oder blinde Flecken. Sie ersetzen die Zwischenräume in unserem Gedächtnis, in unserer Psyche als doppelte Ebene. Diese doppelte Ebene ist permanent präsent in

unserem Inneren. Sie kennzeichnet die Räume, die wir nicht bezeichnen können, vielleicht gar nicht kennen, die unerwartet und unkontrolliert unser Leben beeinflussen und die durch ihr Miss- oder Nichtverstehen in uns Unbehagen auslösen, uns aber eventuell dazu bewegen, sie zu erforschen.“ 2 Neo Rauch bezieht sich immer wieder auf das Fremdsein im Zuhause. Doch hier bezieht sich Freuds psychisches Konzept des Unheimlichen auf die Spaltungen im Individuum. Im heutigen globalen Zeitalter bezieht sich die Gefährdung auf den Lebensraum und das Entgleiten in virtuelle Welten. Maike Freess‘ entrückte Welten kennzeichnen eine Zeit- und Ortlosigkeit, die mit einer Orientierungslosigkeit einhergehen. Diese erinnern an den Surrealismus, doch auf einer ganz anderen Ebene. Inwiefern?

SURREALISMUS

1924 erklärte André Breton im 1. Manifest des Surrealismus: „Ich glaube an die künftige Auflösung der beiden äußerlich so widersprüchlichen Zustände - Traum und Wirklichkeit - in einer Art von absoluter Wirklichkeit, der Surrealität.“ Die surrealistische Bewegung, die sich um 1920 formierte, oszilliert zwischen Eros und Thanatos. Als Gegenbild zum idealen Körperkult der Nationalsozialisten schafft der Surrealist Hans Bellmer sexuell aufgeladene Werke. Hier verschmelzen die Geschlechtsformen zu androgynen Wesen, erotische Auswüchse des Körpers, der zu einer Projektionsfläche wird. Dabei knüpft er an Sigmund Freuds Konzept des polymorph-perversen Körpergefühls des Kindes an. Das Körper-Ich transformiert verschiedene

Körperzonen mit seiner Libido zu fetischartigen Körperzonen, denen er sowohl phallischen als auch vulvaartigen Charakter zuschreibt. Auch in den surrealen Welten von Freess spielt das Unbewusste, Paradoxe und Traumhafte eine ausschlaggebende Rolle, wie in dem Motiv der sich vervielfältigenden Hände, welche versinnbildlichen, sich nicht mehr in der Hand zu haben. Die Zeichnung „Puls schweigt“ (2014/2015) erinnert an ein Pantomimenspiel, wo jedes Körperteil eine Figur inkarniert. Im Gegensatz

zu dem kollektiv spielerischen Charakter der Surrealisten handelt es sich hier um ein ‚introspektives Erlebnis‘. Fern jeglicher sozialer Interaktion ist der Junge von seiner Halluzination völlig gefangen genommen. Maike Freess‘ Werk kennzeichnet einerseits die Konzentration auf eine Person und andererseits auszuscherende, herausbrechende Szenarien, die sich oftmals auf Hintergründen, T-Shirts oder Tattoo-Darstellungen ansiedeln. Der Körper wird nunmehr zum Bildträger von Fantasiegestalten, die sich verselbstständigen, ihr Unwesen treiben. Die Frau in der Zeichnung „Somnolence“(2013) gleicht einem bewohnten Körpergehäuse, aus dem Köpfe und Körperteile herausfallen. Dieses Schlachtfeld erinnert an das absurde Welttheater James Ensors, das sich als grotesk-satirisches, sinnloses Treiben entpuppt. Hier kommt es zu einer Verschmelzung von innerer Gefühls- und äußerer Objektwelt. Gern erinnert sich die Künstlerin an die Karnevalinszenierungen in Leipzig. „Somnolence“ steht gleichfalls in der Tradition der mittelalterlichen Januskörper, aus deren Vorder-und Rückenansicht Schlangen wimmeln. Bei Maike Freess verschmelzen das Körperbewusstsein von Figur und Grund, das Bewegtsein zwischen Zustands- und Gegenstandsbewusstsein sowie die visuellen Abbilder und Innensichten zu einer Ebene, Sinnbild eines geschlossenen, sich verschlingenden Kreislaufs, der unsere heutige Gesellschaft charakterisiert.


1 Georg Christoph Lichtenberg,

Sudelbücher, F.88

2 Maike Freess im Gespräch


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